In einem beliebten Café in Bamberg stand auf der Speisekarte zu lesen: „Sie wollen ihren Kaffee mit Fair Trade Cafébohnen genießen? Gegen 50 Cent Aufpreis bereiten wir Ihnen den gerne zu.“

Meine Begleiterin neben mir am runden Tisch echauffierte sich: „Was für eine Dreistigkeit. Das finde ich ganz schön arrogant. Die lassen dir die Wahl. Wenn du dich, ich sag das jetzt mal so, für fairen Kaffeeanbau einsetzen möchtest, kannst du das gerne tun. Uns ist es scheißegal.“

„Eigentlich ein sehr schlechtes Konzept, das so an den Kunden zu transportieren“, gab ich zurück. „Damit erreichst du doch eigentlich nichts anderes, als dem Kunden klarzumachen, dass du dir über die Zukunft des Planeten keine Gedanken machst. Im Gegenteil, du bist sogar arrogant und fügst hinzu, dass es dich nicht stört, wenn die anderen sich Sorgen machen.“

In diesem Zusammenhang fällt mir ein, dass es stets die Aufgabe des Chefs sein sollte, sich seine Gedanken zu machen über das Konzept, das nach außen dein Bild (der das deiner Firma) repräsentiert. Und das gilt meiner Meinung nach gleichermaßen für ein Café, wie für, sagen wir mal, den Autoren eines Buches. Weil ein Autor sich absolut mit dem Gefühl herumschlagen muss, das seinen Leser beschleichen könnte. Der Leser legt ein angefangenes Buch weg, weil ihm Details mißfallen. Damit ist es durchgefallen. Der Zuschauer einer Serie schaltet diese aus und sieht sie sich nicht bis zu Ende an. Das ist der Albtraum eines jeden Autoren oder Drehbuchschreibers, doch bei der großen Menge an Unterhaltungsangebot kommt es leider häufig vor.

Abonnieren Sie den Newsletter!

Mir kommt der Thriller „Ghost Flight“ von Autor Bear Grills in den Sinn. Da gibt es eine Szene, in der stehen sich die Bösen und die Guten gegenüber. Die Bösen haben feuerspeiende Helikopter, die Guten fliegen in einem Luftschiff. In der Szene, die ich meine, wollen es die Bösen erreichen, dass die Guten ihre Route ändern, damit sie ihrer habhaft werden können. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, drohen die Bösen mit der Ermordung von Menschen. Das tritt dann auch ein. Die Bösen werfen Menschen aus dem Helikopter. Doch die Guten bleiben standhaft und ändern die Route nicht. Für den Leser ist diese Szene beinahe unerträglich. Sie kommt nahe an die Belastungsgrenze dessen, was auch dem wohlmeinendsten Leser zuzumuten ist.

Diese Szene ist wegen des Maßes an Grausamkeit, der an reale Ereignisse des Vietnamkrieges erinnert, oder zumindest an Szenen, die Filme in uns wachrütteln, Grund genug, das Buch wegzulegen. Die Szene steigert die Dramatik so weit, dass am Ende nur noch eine Person aus dem Helikopter geworfen werden kann, eine bis dato im Roman positive und beliebte junge Frau. Du als Leser denkst, wenn die jetzt auch noch geopfert wird, leg ich das Buch sofort weg. Doch der Autor ist nicht dumm, er begeht nicht diesen Fehler an seinem Publikum. Die Hauptdarstellerinnen überlebt.

Im Roman fällt dem Hauptdarsteller im letzten Moment ein Trick ein, um das Leben der jungen Frau zu retten.

In einer anderen Serie, die ich vor Jahren sah, als es noch kein Netflix gab, ist das passiert. Da starb die Vertraute des Hauptdarstellers auf so enttäuschende Art und Weise, dass ich Dexter nach vier gesehenen Staffeln nie mehr angerührt habe. In dieser Serie soll jetzt eine neue Staffel gedreht werden. Ohne mich. 

Es war zu schlimm. Ein Weiterleben schien mir unmöglich. Für Dexter und für mich als Zuschauer. Aber Bear Grills in Ghost Flight begeht diesen Fehler nicht. Im Roman fällt dem Hauptdarsteller im letzten Moment ein Trick ein, um das Leben der jungen Frau zu retten. Und das ist Ausgewogenheit.

Im Buch Flow und Kreativiät erklärt der kanadische Schriftsteller Robertson Davies die Haltung eines Schriftstellers. „Es ist viel leichter, tragisch als komisch zu sein. Ich kenne Menschen, die sich an eine tragische Lebensanschauung klammern und sich dahinter verschanzen. Sie finden einfach alles entsetzlich und grauenvoll, und das ist nicht leicht. Wenn man sich um eine etwas ausgewogenere Sicht der Dinge bemüht, offenbart sich die ganze überraschende Vielfalt von komischen, mehrdeutigen und ironischen Aspekten des Lebens. Und diese Sichtweise halte ich für das Entscheidende bei einem Schriftsteller. Einen todtraurigen Roman zu schreiben ist relativ einfach.“

Diese Kritik von Robertson Davies gilt nicht nur für den literarischen Bereich, sondern weit drüber hinaus. Auch in der Kreativität an sich ist es leicht, bloßzustellen, zu entlarven, herabzusetzen, auseinanderzupflücken und zu rationalisieren, ohne echte Freude im Leben wirklich zur Kenntnis zu nehmen. All das macht uns aber blind für die wichtigste Botschaft, so der Autor des Buches, Csikszentmihalyi, die lautet: Kreative Menschen sollten Vermittler sein von Sinn und Freude im Chaos der Existenz.

„Ich will keine Arbeit sehen, die vielleicht unglaublich ist, aber nirgendwo hinführt.“ Ed Kashi

Der amerikanische Fotojournalist Ed Kashi, den ich für mein Projekt über die Ethik im Photojournalismus interviewen durfte, sagt dasselbe im Gespräch, bezogen auf die Art, wie guter Journalismus gemacht werden sollte. „Ich will keine Arbeit sehen, die vielleicht unglaublich ist, aber nirgendwo hinführt. Es gibt zu viele Fälle, in denen bestimmte Projekte enorme Auszeichnungen erhalten, aber sie tragen nichts zum Dialog über dieses Thema bei oder weisen auf irgendeine Art auf eine Lösung hin. Und für mich ist das an diesem Punkt nicht genug. Ich nehme an diesem Spiel nicht nur aus persönlichem Ruhm oder Gewinn teil. Ich möchte Projekte schaffen, die einen Unterschied machen. Und das geschieht, indem ich ein Thema oder ein Problem finde und es durch meine Fotografie und visuelle Erzählung beleuchte, aber dann auch eine mögliche Lösung hervorhebe, einen Weg zur Verbesserung dieser Situation.“

Und das gilt auf eine bestimmte Art auch für ein Bamberger Café, das eine Vorreiterrolle haben könnte, was Kaffeegenuß und -Konsum angeht. Anstelle es dem Kunden hinzuschieben und zu sagen, hier, mach du, wenn dir Fair Trade etwas bedeutet. Man könnte zum Beispiel den Ort des Kaffeehauses nutzen, um die Geschichte eines Kaffee-Bauern zu erzählen, um über fairen Handel nachzudenken und so die Gäste ermuntern, sich selber zu engagieren. 

Es ist ein weiter Weg von der unkritischen Konsumhaltung zum selbständigen Denken und Handeln, aber gehen sollten wir ihn alle.

 

Zusätzliche Informationen:

Ethik im Fotojournalismus Podcast

Podcast des „Fotograf mit Zweifeln“

Website: www.doubtingphotographer.com

Questions about ethics in photojournalism Today we know that it is the images that create reality. The work „a doubting photographer“ takes the reader on a journey to the questions of ethics in photojournalism, photography and the media.

Facebook: https://www.facebook.com/adoubtingpho…

Get the Newsletter!

Alle bisher veröffentlichten Artikel

 Support the project 

 

In Zusammenarbeit mit dem Migrations-Zentrum Oikia und der Fundación Resilis habe ich im katalanischen Girona ein mehrteiliges Fotoprojekt initiieren können, das sich mit dem Thema Immigration auseinandersetzt. Eine erste Ausstellung begann im März 2018 in Girona, Spanien. Eine weitere folgte im Mai 2019 in der Provinz Burgos.

Die Auseinandersetzung mit Menschen, die aus der „Fremde“ zu uns nach Europa, nach Deutschland oder in diesem Fall nach Spanien kommen, ist für viele Menschen nicht einfach. Für die Menschen, die in unseren Breitengraden leben, bedeuten Immigranten nicht selten eine Bedrohung. Mag es am Islam liegen oder an der anderen Hautfarbe, die der Immigrant mitbringt, am Anfang ist jedweder Kontakt schwer, eine dauerhafte Integration erscheint noch viel schwerer. 

Ausstellung meiner Arbeit im „Labyrinth“ in der Aldea, Onya, Provinz Burgos

Für den Menschen, der aus einem anderen Kontinent nach Europa gekommen ist, bedeutet das Erreichen eines bestimmten Ziels dort das vorläufige Ende einer sehr langen Reise unter oft unmenschlichen Bedingungen.

Das Arbeiten hingegen in einer Sammelunterkunft für Kinder und Jugendliche, wie ich es in Girona unter der Leitung von Oikia/Resilis erleben durfte, bedeutet den dort angestellten Erziehern, Pädagogen und Ärzten eine ganze Menge. So schwierig sich das Zusammenleben und die tägliche Auseinandersetzung um die Probleme eines jeden einzelnen auch gestalten mag, so groß ist doch die Verbundenheit und gegenseitige Wertschätzung zwischen vielen, die dort sind. 

Ausstellung meiner Arbeit im „Labyrinth“ in der Aldea, Onya, Provinz Burgos

Besonders zu spüren ist das an den Momenten, wo jemand diesen Ort der Ruhe wieder verlässt, sei es ein Pädagoge, weil er eine andere Arbeit gefunden hat oder ein Jugendlicher, weil er zurück in sein Heimatland geht oder in der Hoffnung auf ein besseres Leben weiterzieht nach Norden.

 

Spanien ist nicht das Ziel der meisten Immigranten, die ich in Girona kennenlernte. Einige träumen von Deutschland, andere sind enttäuscht und wollen wieder zurück in ihre Heimat, sie hatten es sich hier anders vorgestellt. Nicht alle, die ich treffe, sind in der Lage, sich in einer europäischen Sprache gut auszudrücken, nicht alle zeichnen sich aus durch edlen Charakter, aber ich sehe Glanz in Augen so manch eines Jugendlichen, erspüre Ängste und Sehnsüchte.

Wie die Erzieher bestätigen, haben viele Jugendliche ein großes Potential; sie haben Schreckliches durchgemacht und nun das Glück, in diesem Zentrum auf einem Hügel unweit der kleinen Stadt Girona ein wenig durchzuatmen. Hier gibt es für sie zu Essen, warme Kleidung und eine schulische Ausbildung. Alles wichtige Grundvoraussetzungen für ihren weiteren (Lebens-)Weg, auch wenn das nicht jeder so sieht.

So durfte ich in Zusammenarbeit mit den Erziehern ein Konzept erarbeiten, das mir als Fotograf und Künstler einen neuen Weg für ein interessantes Projekt wies. Ich fotografierte die Jugendlichen im ersten Teil dieser Arbeit im Zentrum und auf öffentlichen Plätzen der Stadt Girona, wo sie mittlerweile zum Stadtbild gehören. Aus rechtlichen Gründen darf ich die Gesichter nicht zeigen, was für mich zur Folge hat, dass ich in der Ausstellung ohne die ausdrucksstarken und oft ernsten Blicke der Jungen arbeiten muss. Das empfand ich anfangs als sehr schade, begann dann aber damit, diesen Nachteil als einen Teil der Ausstellung zu inszenieren.

 

In Dipl. Des. Björn Göttlicher paart sich die Gelassenheit des Spaniers mit der Zuverlässigkeit des Deutschen und der Trinkfestigkeit des Finnen. Als cooler Papa und passionierter Mützenträger ist der Autor zahlreicher Bücher im Umgang mit seinen Makeln genauso humorvoll wie beim Vermitteln von fotografischem Wissen. Er beschäftigt sich als Autor viel mit den ästhetischen und philosophischen Fragen des Mediums Fotografie und erkundet die filmischen Ausdrucksmöglichkeiten in seinen Kurzfilmen. Darüber hinaus war er Bildredakteur des Satiremagazins „Der Laufbursche“ und seit 2018 Gründer des Photochimp Clubs.

 

Teil 3 – Die Ambivalenz des Leidens

 

Matthias Krug, Bildredakteur des Hamburger Magazins „Der Spiegel“, erklärt mir im Interview, die Arbeit des Fotojournalisten habe großen Einfluss auf die Gesellschaft. Sie zeige Probleme auf, anstatt sie nur zu beschreiben.

Die Fotografie visualisiere Geschehnisse. Im Falle von Naturkatastrophen sähen die Menschen erst durch Bilder, was vor Ort passiere. Beim Thema Ebola zum Beispiel, sähe man erst durch die Fotos die grauenvolle Situation der Menschen in Afrika. Das sei eindringlicher, als wenn man es nur mit Worten beschreiben würde. Ähnliches gelte für Ausstellungen, die sich solchen Themen widmeten.

Fotos in Galerien, Museen, Magazinen, Zeitungen oder auf Online-Seiten verdeutlichten den Menschen gewisse Dinge. Das könne die Bereitschaft der Bevölkerung verstärken, Hilfsprojekte zu unterstützen.

Der Bonner Kunstkritiker und Ausstellungsmacher Klaus Honnef sieht es nicht ganz so optimistisch. Fotografie sei, wie alles, was die Menschen erfänden, ambivalent. Einerseits habe die Fotografie Aufklärungsarbeit geleistet.

Bilder hätten ihre eigene Qualität, uns anzufassen – uns zu berühren. Menschen spendeten deshalb für Kinder in Not oder Opfer des Krieges. Einerseits. Andererseits, und das läge daran, dass die Fotografie nicht nur solche Lichtbilder aussende, setzten Bilder in Krisenregionen Massen in Bewegung, die in Europa ihr Heil suchten und Asyl beantragten.

Sei es, weil sie verfolgt würden, sei es, weil es ihnen schlecht gehe: Die Fotografie sei „movens“, sie bewege in jedem Fall. Und sie habe dazu beigetragen, dass wir die Welt verzerrt wahrnähmen. Wir wüssten mehr als früher, wir kümmerten uns, aber wir hätten ein Bild von der Welt, das wir gar nicht mehr beherrschen könnten – dank der Fotografie und ihrem Nachfolgemedium, dem Fernsehen.

Obwohl es den Menschen in Nordeuropa gut gehe, empfänden viele hier ein großes Maß an Unsicherheit. Und das liege sicher auch an dieser verzerrten Sicht auf die Welt.

Außerdem, so betont Klaus Honnef, ziehe das Leid anderer die Menschen an. Weiterlesen.

 

 

Teil 2 – Meeri

Ausgangspunkt für mein Projekt ist die Frage, was sich durch Fotoreportagen über das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung für die Menschen verändert hat. Dazu will ich die finnische Fotografin Meeri Koutaniemi und den spanischen Fotografen Kim Manresa besuchen, welche beide dieses Thema fotografiert haben. Ich will mehr herausbekommen über ihre Hintergründe, ihre Motivation und mir von ihren Erlebnissen erzählen lassen.

Bevor ich nach Finnland aufbreche, kann ich in der spanischen Hauptstadt Madrid mit Miguel González  sprechen, dem Chef der renommierten Fotografen-Agentur Contacto. Ich frage Miguel González, ob fotografische Geschichten überhaupt in der Lage sein können, in der Gesellschaft etwas zu verändern. Er nimmt sich Zeit für eine Antwort. Dann erläutert er mir, dass Fotografen oft durch die Veröffentlichung eines Themas dazu beitragen, dieses Thema für die Gesellschaft zugänglich zu machen. Und ja, die in einer Veröffentlichung angesprochen Themen können sich ändern.

Diese Veränderungen vollzögen sich extrem langsam, sagt González. Eine einzige Text- oder Fotoreportage wird allein sicher keine Veränderung hervorrufen. Aber sie ist durchaus in der Lage, den Grundstein dafür zu legen. Es gehe dann eben um eine Realität, die die Menschen bis dato nicht gekannt haben. Sie ist mit einem Male existent. Bekannterweise sei es ja der erste Schritt beim Lösen eines Problems, dieses erst einmal kennenzulernen und sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Genau da habe der Fotojournalismus seinen Platz und seine Berechtigung. Er kann fundamentale Elemente dazu beitragen, dass diese bislang unbekannte Realität eine Veränderung erfährt. Das geht nur Schritt für Schritt. Die Gesellschaft nehme diesen Wandel kaum wahr.

Miguel González sagt, es gehe nicht darum, die Gesellschaft zu verändern.

Weiterlesen.

Das Projekt:

https://www.riffreporter.de/fmz/

Teil 1 – Der Anfang

Teil 2 – Zu Besuch bei einer finnischen Fotografin

 

Teil 3 – Die Ambivalenz des Leidens

 

Teil 1 – Einleitung

Mein Name ist Björn Göttlicher. Ich arbeite seit 20 Jahren als Fotoreporter und habe in meinem Beruf einiges gesehen. Viele schöne Dinge, aber auch die Ungerechtigkeit in der Welt und das Leiden vieler Menschen. Das hat mich nachdenklich gemacht, und ich habe angefangen, Fragen zu stellen. Ich bin der Fotograf mit Zweifeln.

In meiner Koralle möchte ich Sie mitnehmen auf meine innere Reise zu den Fragen der Ethik in der Fotografie. Die begann bei einem Besuch eines Festivals für professionellen Fotojournalismus. Ich besuchte das „Visa pour l’image“, das angesehenste Festival Europas in Perpignan. Dort wurde bei der allabendlichen Projektion der besten Bilder des Jahres auch ein Preis verliehen. An eine finnische Fotografin. Sie heißt Meeri Koutaniemi. Das war aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens bin ich zur Hälfte Finne. Meine Mutter stammt aus Finnland, und wenn eine Fotografin von dort einen renommierten Preis überreicht bekommt, dann freue ich mich gleich doppelt mit ihr. Das war aber nicht der einzige Grund. Der andere lag in dem von Meeri gewählten Thema, für das sie den Preis bekam.

Die Finnin ist ausgezeichnet worden für eine kürzlich entstandene Schwarzweiss-Reportage  über das Thema FGM, Female Genital Mutilation, aufgenommen bei einem Stamm der Massai in Afrika. Ein schreckliches Verstümmelungs-Ritual, das nur in wenigen Ländern praktiziert wird. Ich wusste nicht viel darüber, doch was ich wusste, das hatte ich einer anderen Schwarzweiss-Reportage entnommen, die ich zehn Jahre zuvor in einer spanischen Zeitschrift gesehen habe. Ich erinnerte mich noch gut an den Namen des Fotografen, der diese Bilder  aufgenommen hatte. Er heißt Kim Manresa. Seine Fotos haben nach der Veröffentlichung hohe Wellen geschlagen, sie zeigten ein weinendes kleines Mädchen in ihrem unsäglichen Schmerz. Der Fotograf hatte das Kind, das er fotografiert hatte, angeblich später sogar adoptiert, so sehr ging ihm die Geschichte zu Herzen.

Das ließ mich ratlos dastehen. Meeri Koutaniemi, Kim Manresa. Zwei Fotografen, dieselben visuellen Dokumente des Grauens. Schwarzweiss, intim, erschreckend. Einem jungen Mädchen wird die Klitoris beschnitten, hier wie da zweimal dasselbe schmerzhafte Ritual. Beide Reportagen fotografiert in Afrika. Zwischen den zwei Geschichten liegen viele Jahre, das kann ich sehen. Aber was ist in der Zwischenzeit passiert?

Plötzlich sind sie da, die Fragen. Sie kommen aus dem Nichts. Sie steigen in mir auf wie Bläschen in einem Sprudel. Und sie verschwinden nicht mehr.

Bestimmt sind diese kritischen Fragen das Ergebnis meiner Berufserfahrung, das Ergebnis eines jahrelangen Hinschauens, das in meinem Beruf nötig ist. Aber ich empfinde sie als lose Enden. Sie müssen wieder zusammengefügt werden, sonst finde ich keine Ruhe. Ich muss jemanden suchen, der meine Fragen beantworten kann. Denn es geht im philosophischen Sinne um die Wirkung von Fotografie, von Bildern und Dokumenten.

Die Bildreporter, die ich kenne, lassen meist glaubwürdige bildnerische Dokumente entstehen, die in ihrer Direktheit und Härte von Lebensrealitäten künden, die uns durchaus unangenehm sind. Sie sind oft weit weg von unserer Wohlfühlzone. Worum geht es in der Fotografie für mich? Kann ich selbst einen Beitrag leisten, um die Welt ein Stück besser werden zu lassen? Oder ist das nur eine Illusion? Das ist der persönliche Ausgangspunkt meiner Reise. Jede Frage generiert eine weitere Frage. So entsteht der Weg meiner Reise zu den Fragen der Ethik.

Begleiten Sie mich auf meinem Trip durch die Welt der Fotografie! Die Ethik hat ihre eigenen Fragestellungen und durchaus spannende Antworten. So ist das in dieser Koralle realisierte Projekt, für das ich ein Stipendium der VG Bildkunst erhalten habe, nicht nur für Fotografen von Interesse. Es ist interessant für diejenigen, die häufig und gerne Bilder betrachten, die sich von ihnen provoziert fühlen und die die visuelle Sprache der Fotografie besser verstehen möchten.

Ich spreche mit Menschen, die diese Fragen beantworten können oder zumindest eine Meinung dazu vertreten. Und ständig habe ich meine Zweifel. Ist es anmaßend, wenn ich mich in die Arbeit anderer einmische? Aber da sind sie schon wieder, die Zweifel, die dieser Serie ihren Namen verleihen. Der Fotograf mit Zweifeln. Als erste Interviewpartner  versuche ich es bei der Finnin Meeri Koutaniemi und dem Katalanen Kim Manresa zuhause. Mal sehen, ob sie mir die Tür aufmachen. Aber dazu mehr im nächsten Video.

Das Projekt:

https://www.riffreporter.de/fmz/

Teil 1 – Der Anfang

Teil 2 – Zu Besuch bei einer finnischen Fotografin

 

Teil 3 – Die Ambivalenz des Leidens

 

Im Herzen Luxemburgs, in der Burg des kleinen Ortes Clervaux, befindet sich gegenwärtig eine der wichtigsten Fotoausstellungen der Welt. A Family of Man wurde schon 2003 in die Liste des UNESCO Weltdokumentarerbes aufgenommen. Ich wollte mit meinen eigenen Augen sehen, warum.

Die Anreise nach Clervaux erfolgte mit dem Auto durch das Saarland, und um nach Luxemburg zu gelangen, musste ich ganz schön tief ins Herz dieses kleinen Landes eintauchen, sprich über Landstrassen fahren. Einmal angekommen, kann man gut am Parkplatz vor der Burg halten und es dauert nicht lange, bis man sich in einer Art Weltkriegs-Memorial befindet, denn ein Panzer begrüsst die Besucher am Schloßeingang. Doch so sehr mich die Geschichte der Weltkriege auch interessiert, ich bin gekommen für A Familie of Man und A Family of Man ist Fotogeschichte im reinsten Sinne.

Darüber, dass diese Ausstellung einer der wichtigsten in der Geschichte der Fotografie ist, hatte ich während der Arbeit an meinem Buch gelesen und seit mehr als einem Jahr zieht es mich deswegen nach Clervaux. Die Ausstellung wurde im Jahre 1955 vom Fotografen Edward Steichen für das MOMA, das Museum of Modern Art in New York, kreiert. Dahinter stand die Idee, durch die universelle Sprache der Fotografie das Verständnis der Menschen untereinander zu fördern. Das war damals als Idee genauso neu wie es heute aktuell ist. Insgesamt zu sehen sind 503 Fotografien von 273 Autoren, darunter berühmte Fotografen ebenso wie Foto-Amateure. Steichen hatte sich durch einen Berg von 4 Millionen Einsendungen zu kämpfen, um seine Auswahl zu treffen. Und das hat er sehr gut gemacht.

Edward Steichen war übrigens Luxemburgischer Herkunft. Also wurde seine Ausstellung quasi heimgeholt. Richtig so! Das macht Hoffnung auf Anerkennung in der Heimat. Die bekanntesten Fotografen, deren Werke zu sehen sind, sind Henri Cartier-Bresson, Robert Capa, Dorothea Lange, Robert Doisneau und August Sander. Die Ausstellung wurde ein sensationeller Erfolg und bereiste die Welt in den 50er und 60er Jahren. Zu sehen sind in Clervaux 37 Motiv-Gruppen: die Liebe, der Glaube, die Geburt, die Arbeit, die Familie, Leiden, Krieg und Frieden…. Als besonders beeindruckend empfinde ich als Betrachter die Interkulturalität, sowie die Darstellung der Gefühle, die weltumspannend präsentiert wird. Das Leiden als Ergebnis von Unterdrückung und Krieg ist sehr eindrücklich, ebenso wie die Freude, die die Menschen erleben, beim Tanz, beim Feiern oder in der Familie. Die verschiedenen Etappen des Menschseins sind wie ein ruhiger, aber extrem bewegter Fluss dargestellt. Völlig egal, ob die Bilder aus Deutschland stammen, aus England oder aus Asien. Erkennbar ist die Zeit, in der die Dokumente entstanden sind. Es ist die Nachkriegszeit und somit ein bedeutendes Dokument einer Epoche, die uns heute ein wenig fremd erscheinen mag und die wir durch die Bilder nah heran holen.

Poetisch ist die Zusammenstellung der Bilder. Das Schwarzweiss funktioniert, um so viel Farbe und Vielfalt darzustellen, wie ich es bis dato nirgendwo anders gesehen habe. Meine einjährige Tochter erkennt Dinge und Situationen und deutet mit dem Finger darauf. Das macht die Wahl der Bilder menschlicher und nähert sie dem Betrachter an. Der Besucher langweilt sich nicht, im Gegenteil. Ich kann meiner Tochter bestimmte Situationen erklären, das ist ein echtes Familienereignis. Eine Stille herrscht in der Ausstellung, fast wie ein er Kathedrale. Flüstern ist angesagt. Und das ist das Beeindruckendste: Man kann auf der Rückfahrt noch lange über die verschiedenen Eindrucke reden, auch über dieses Yin und Yang, diesen Kontrast, den diese wie ein Organismus lebende Ausstellung bildet gegenüber der anderen, die Objekte und Momente der Krieges und der Vernichtung darstellt.

 

Sehr empfehlenswert: A Family of Man in Clervaux.

 

[button color=““ size=““ type=“outlined“ target=““ link=““][/button]

Unter dem Titel „Ikonen der Flucht – Die neue Macht der Fotografie“ trafen sich in Köln im Rahmen der Photoszene 2016 die Fotografen Sybille Fendt, Nikos Pilos, Daniel Etter, Christoph Bangert, Peter Bialobrzeski mit den Herren Andreas Trampe vom Stern und Lutz Fischmann von Freelens, sowie Lars Boering vom World Press Award zum abendlichen Stelldichein. Aus den Vorträgen und der anschliessenden Debatte habe ich mir folgendes notiert.

Das Bild der fünfjährigen Ayla, die tot am Strand liegt, ist sicher DIE Ikone der gegenwärtigen Flüchtlingskrise. Ein Bild, das die öffentliche Meinung beeinflusst hat und das bis in die Politik vorzudringen vermochte. Am 5.September 2015 öffnete Kanzlerin Merkel die Grenzen, und ein beispielloser Flüchtlingsstrom ergoss sich über Europa mit dem Ziel Deutschland. Der Grieche Nikos Pilos zeigt Bilder und bewegende Videos über eine Situation der Grenzschließung im Balkan und über den Tod im Meer. Er berichtet, er hätte auf der Insel Kos den Vater zweier Kinder interviewt, direkt 2 Stunden nach deren Tod durch Ertrinken. Dieser stand verständlicherweise komplett unter Schock. Aber auch der Fotograf war von der dramatischen Situation, die er dokumentierte, sehr mitgenommen und stellte sich selber die Frage, wie man mit den Bildern im Kopf umgeht, um diese verarbeiten zu können und um weiterleben zu können. Keine leichte Frage, Ikonen hin oder her.

Weitere sich zur Ikone eignende Bilder werden erwähnt, so die Bilder von World Press Award Preisträger Warren Richardson. Ein Flüchtling reicht sein Kind durch einen Stacheldrahtzaun bei Nacht. Pulitzer-Preisträger Daniel Etter, der seine Praktika bei James Nachtwey und Seven absolviert hat, zeigt nun sein Gewinner-Bild, eine Foto-Ikone, die viele Menschen auf Titelbildern oder im Internet gesehen haben. Es zeigt einen Mann, der beim Betreten festen Bodens nach nächtlicher Fahrt über das Meer ein Kind auf dem Arm hält und von Gefühlen überwältigt weint. Ein Bild mit einer einfachen Lesbarkeit und schneller Zugänglichkeit für den Betrachter, was es auch zu einem sehr oft mißbrauchten Bild gemacht hat. Daniel Etter zählt die einzelnen Fälle von Bild-Mißbrauch auf, wobei er betont, wie unkontrollierbar das Phänomen für ihn als Autor des Bildes ist. Eine einmal in die Welt gesetzte Fehlinformation ist fast nicht mehr korrigierbar. Schmuggler hatten ihm erzählt, die Familie käme gar nicht aus Syrien. Im Irak wurde sein Bild von Demonstranten hochgehalten. In Marokko verbreitete sich das Gerücht, Kanzlerin Merkel hätte dieser Familie persönlich geholfen. Auf Facebook kursierte das Gerücht, die Familie hätte 536,067 € gewonnen. Dann wurde das Bild in anderem Zusammenhang in Kanada verwendet. In den USA dachten manche, die Familie sei aus Mexiko und hätte den Rio Grande überquert. Das Bild wurde als Propaganda gegen Donald Trump verwendet. Ich mache zu Hause mal den Test, ob sich das Bild von Daniel in diesem Zusammenhang im Netz finden lässt. Doch unter „mexican refugees rio grande“ finde ich es bei Google auf Anhieb nicht, obgleich ich erschüttert bin, was ich da für Bilder zu sehen bekomme und verstehe, wie es zu einer visuelle Ähnlichkeit kommen kann.

Jedenfalls ist eine der Schlussfolgerungen dieses Bild-Ikonen-Mißbrauchs, daß unser eigener kultureller Kontext und unsere eigene individuelle Erfahrung sich wie ein Schleier über ein Bild legen und ihm so einen anderen Kontext verleihen können. Oder ist das nicht immer der Fall? Ist das nicht beim Betrachten jedes Bildes so? Die auf dem Bild dargestellte Familie jedenfalls ist schon wieder im Irak, von wo sie auch aufgebrochen ist.
Das hat Daniel bei der Aufnahme vor Ort erfahren. Gut. Aber wenn man dieses Bild an ganz unterschiedlichen Orten unterschiedlichen Menschen zeigen würde, was würde dabei herauskommen? Wenn man es einem jungen Somali, einer 29-jährigen Österreicherin und einer alten Frau in den Anden zeigen würde, was würde sie darin sehen? Wahrscheinlich würden alle als erstes erkennen, dass es sich um eine Vater handelt, der sich um seine Kinder sorgt und der weint. Gefühle sind universell und von jedem lesbar. Aber ob es sich dabei um eine Schiffskatastrophe handelt, um Bootsflüchtlings in Australien oder eine Überschwemmungskatastrophe im Donau-Delta, das würde wahrscheinlich jeder so interpretieren, wie er es kennt oder sich vorstellen kann. Dass eine Österreicherin im Bild Flüchtlinge am Mittelmeer erkennen würde, liegt in diesem Zusammenhang sicher daran, dass derartige Bilder gegenwärtig eine starke Medienpräsenz haben. Aus der Sicht des Reporters oder Fotojournalisten, sowie aus Sicht ethisch moralisch verantwortungsbewusst handelnder Bildredakteure bei einer großen Zeitschrift, würde man jetzt den enormen Wert einer korrekten Bildbeschriftung hervorheben, die ja auch Teil der Arbeit an einem Bild ist und die sehr gewissenhaft erledigt werden muss.

To be continued

Das ist „Like a Coat of rain“ von Björn Göttlicher!