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Mädchen beim Selfie. ©Göttlicher

 

Als Fotograf und aufmerksamer Beobachter mache ich mir meine Gedanken zur Geschichte der Fotografie und dem Moment, in dem wir uns befinden. Hier an dieser Stelle soll es um die Bilderflut gehen und um die Möglichkeiten, die Fotokünstlern gegeben sind, sich damit auseinanderzusetzen.

Als ausgebildete Fotografen (ich spreche für mich und andere) sehen wir uns selbst nicht gerne als Teil der Bilder produzierenden Masse, obwohl wir uns sehr wohl bewusst sind, dass die Qualität, auf die wir so viel Wert legen, zunehmend von weniger Menschen wahrgenommen und wertgeschätzt wird. An ihre Stelle tritt die visuelle Flut, die Überflutung in allen Bereichen des Lebens, die uns sogar bis nach Hause verfolgt. Die Bilder haben sich längst gegen uns gewandt und das ist ein Konflikt, so unaussprechlich und schwierig er auch sein mag. Früher ging man zu Fotografen, um sich fotografieren zu lassen, heute hat man die Kamera immer dabei und unsere Bilder kommen zu uns. Es ist an der Zeit, sich Gedanken zu machen über Strategien der Resistenz, will man die Kamera nicht bewusst beiseite legen.

Fotografin am Meer. ©Göttlicher

Früher war es die geistige Elite der Priester, die die Bilder herstellte. Dann kamen die Künstler, die es in deren Auftrag taten. Zu Beginn der Fotografie war die Handhabung der Technik sehr kompliziert und Spezialisten überlassen. Im Jahre 1889 entwickelte George Eastman den viel zitierten Spruch „you press the button, we do the rest“, womit der Demokratisierung der Fotografie Tür und Tor geöffnet wurde. Als erstes fotografierten die Menschen im privaten Bereich, bei Festen oder Hochzeiten und machten sich extra dafür schick. Heute sind wir alle Fotografen, Bild-Produzenten und Konsumenten. Nie war es leichter, Fotograf zu sein, nie war weniger schulische Ausbildung dafür vonnöten. Das Ergebnis ist, dass von mehr als 7 Milliarden Menschen mehr als 2 Milliarden ein Smartphone besitzen und viele damit auch eine Kamera.

Auf Facebook werden jede Sekunde circa 3000 Fotos hochgeladen. Das entspricht 350 Millionen Fotos täglich. Insgesamt wurden bislang mehr als 250 Milliarden Fotos auf Facebook hochgeladen.

Instagram hat weltweit 400 Millionen User, 9 Millionen davon sind Deutsche. Diese User bislang etwa 40 Milliarden Fotos hochgeladen, das bedeutet etwa pro Tag 80 Millionen (eine andere Quelle spricht von 20 Mio). Wie viele Fotos täglich auf Flickr hochgeladen werden scheint da irrelevant, auch weil dieser Service demnächst kostenpflichtig wird, und sich da die User abwenden könnten, denn nur was umsonst ist, ist auch gut. So sieht es ja die Mehrheit der Fotografen, obgleich sie diese visuelle Freiheit des Hochladens von Food-Porn oder Strand-Füßen mit dem Verlust der Freiheit im Netz erkauft hat. So oder so kommt es zur Bild-Verschmutzung, zur visuellen Verstopfung.

Fotograf im Stadion ©Göttlicher

Ein Künstler hat einmal ausgerechnet, dass bei der Menge an Bildern, die pro Tag hochgeladen werden, ein Mensch 49 Jahre brauchen würde, um sie sich anzusehen. Absurd, denn natürlich sind diese Bilder ja nicht an nur einen Menschen gerichtet. Dennoch, wir haben heute alle mehr Bilder gesehen als unsere Vorfahren in ihrem ganzen Leben. Macht es da wirklich Sinn, weiterhin Bilder zu machen ? Ist es nicht die Abstinenz, die jetzt wichtig ist ? In einem Moment sensibler Reflexion würde doch jeder von uns zu der Erkenntnis gelangen, dass es viel wertvoller ist, einen Sonnenuntergang am Strand bewusst zu geniessen, als ihn wie alle anderen auch mit dem Smartphone einzufangen und sogleich hochzuladen, nur um ihn der schon existierenden Masse an Sonnenuntergängen hinzuzufügen, oder etwa nicht ?

Betrachtet man aufmerksam die Handlungen der Menschen, so fällt einem auf, dass sich das Handlungs-Schema von Zuschauern völlig gewandelt hat. Während noch vor 10 Jahren Zuschauer einfach Zuschauer waren, so sind sie heute allesamt Teilnehmer und fotografieren mit dem Smartphone über den Köpfen der anderen hinweg. Die digitalen Bildschirme haben die Menschen verwandelt, sie werden zu Spiegeln ihrer Existenz. Das Fotografieren einer Situation ist wie das „Nicht-an-ihr-Teilnehmen“ geworden, da sich die fotografierende Masse zunehmend passiver verhält. Hier ergeben sich künstlerisch-paradoxe Szenen für aufmerksame Beobachter. Es kommt zu Fotos von Menschen, die sich beim Fotografieren fotografieren. Es kommt zu ungewohnten Gruppenportraits von fotografierenden Fotografen, die alle auf ein Motiv starren. Dieses kann vielleicht ein Modell sein, ein Promi oder ein Rockstar, seine Bedeutung ist aber herabgesetzt. Es geht nicht mehr um das Motiv, es geht um die Teilnahme, um das Dabeisein und es Dokumentieren im Sinne des Narzis, wobei das Motiv nurmehr der Grund dafür ist, der Anlass.

Meine Serie „Amadeus Garden“

Man sollte mal zählen, wieviele Menschen auf Gruppenaufnahmen fotografieren. Da kommt der Archivar ins Spiel, der Künstler, der dem Ganzen eine neue Ordnung verleihen will. Der Künstler, der sich dann die Mühe macht, die fotografierenden Menschen zu zählen oder zu klassifizieren oder zu verfolgen, da sie sich für ihn zum Motiv entwickeln. Arme Welt ! Aber vielleicht ist genau das eine neue Tendenz in der Fotokunst, das Massifizieren, das Sammeln, das Archivieren. Genau wie in den 90ern das Vergrößern die Mode war. Alles wurde in der Fotokunst riesengroß, ich nenne Thomas Ruff mit seinen Portraits als Beispiel. Die Sammlung als eine Art Hyper-Akkumulation. Die Masse als Grund, das sich der Betrachter dafür interessiert. Viele Künstler fotografieren jetzt Objekte in Museen ab, von klein zu groß, von verstaubt zu vergrößert. Eine neue Form, Ordnung in die Welt zu bringen mit Hilfe der Fotografie. Sammlungen von Objekten werden so zu Ready Mades im Sinne Duchamps. Das Kuriositätenkabinett als Archiv, geordnet nach neuen visuellen Kategorien, wie Form, Farbe, Größe.

Sammlungen von Objekten werden so zu Ready Mades im Sinne Duchamps.

Alles Fotografen heute ©Göttlicher

Objekte bekommen so eine neue Bedeutung, wenn sie erst gesammelt werden und dann mit einer Erklärung versehen. Wie die Bilder der Molotov Cocktails von Donald Weber. Einfach vor weißem Grund abfotografiert als Objekte. Bier- und andere Flaschen mit brennbaren Tüchern darin. Verwendet auf dem Maidan bei den Demonstrationen in der Ukraine. So wird die Erinnerung der Objekte zum Ausdruck des Protestes. Andere Beispiele für das neue Arbeiten mit existierendem Bildmaterial ist das Werk von Penelope Umbrico, Sunset, wo die Künstlerin Unmengen an Sonnenuntergängen von Flickr zusammengestellt hat oder Erik Kessels Projekt Black Dog, wo der Künstler in sehr witziger Weise alte Familienbilder darstellt, der er gefunden hat und in denen immer wieder ein schwarzer Hund abgebildet ist, der möglicherweise zur Trennung des Paares beigetragen hat, weswegen seine Bilder schließlich im Müll landeten.

Obgleich man sich mit gesundem Menschenverstand manchmal fragen mag, welcher Sinn darin liegt, 250.000 unzusammenhängende Bilder zu machen (so wie das ein Künstler macht, deren Name mir grade nicht einfällt) oder Sonnenuntergänge zu sammeln, wie Penelope Umbrico. Will die Künstlerin Aufmerksamkeit erregen für die Bilderflut ? Ich denke, sie hatte Spass dabei und will den Menschen nur die Möglichkeit anbieten, für sich selbst zu Hause schöne Selfie-Hintergründe zu basteln, wenn man mal nicht in den Urlaub fahren kann. Denn wer verbietet es einem, ihr Werk nachzubauen, wo sie selbst als Künstlerin ja auch keine Probleme hat mit dem Verwerten von Bildern anderer, die damit aber allesamt einverstanden waren (ohne es zu wissen).

Göttlicher in einer Camara Obscura ©Göttlicher

Werk von Joan Fotcuberta im öffentlichen Raum in Barcelona. Das Bild mit dem Kuss zweier Frauen besteht aus Tausenden Einzelbildern und dient vielen Touristen als Selfie-Hintergrund.

Einen Künstler, der mit Fotografie arbeitet, treibt häufig der Gedanke um, alles sei schon getan. Alles sei schon fotografiert, alles sei schon gesehen, nichts ist wirklich mehr neu oder originell. Gibt es einen Weg aus diesem Dilemma ?

Der Künstler Joan Kenning gibt in seinem Video Vermödalen – The fear that everything has already been done eine Antwort, die vielleicht weiterhilft: Ja und nein. Die Bilder, die von uns Menschen produziert werden, handeln von dem, was wir tun. Sie handeln von unseren Familien, von unseren Festen, von unseren Gesichtern, von unseren Füssen am Strand. Sie handeln vom Blick aus dem Flugzeug, von geliebten Menschen oder von was auch immer. Dabei gilt es festzuhalten, dass die Menschen sich durchaus ähneln in dem, was sie machen, in der Art, wie sie lachen, aus dem Fenster schauen oder ihre Füsse ans Wasser halten.

Das ist einfach so, und die Bilderwelt, in der wir leben, zeigt es uns jeden Tag aufs Neue. Doch dabei sind die Menschen auch genauso individuell, unterschiedlich und verschieden, ebenso wie Schneeflocken, die herabrieseln und bei denen auch keine der anderen gleicht, auch wenn es alles Schneeflocken sind.

Ebenso sind unsere Bilder verschieden, sie gleichen sich zwar von den Motiven her, aber verschieden sind sie doch. Zum Glück für uns sind wir wie die Schneeflocken und der Reichtum der menschlichen Rasse liegt genau darin. Bitte mich jetzt nicht falsch verstehen, ich habe heute Nacht nicht Paulo Coelho gelesen und keiner muss jetzt auf Pilgerfahrt. Das sind vielmehr Gedanken, die Fotokünstlern gekommen sind, die sich viel mit Bildern beschäftigen.

Als die Fotografie im Jahre 1839 erfunden wurde, galt das neue Medium noch als Wahrheit, als eine eins zu eins Übersetzung der Realität, die die Welt repräsentierte.

Bis dato war es die Malerei, die ja für ihren subjektiven Gestus bekannt war. Eine Hand hielt einen Pinsel an eine Stelle auf einer Leinwand und so entstand nach und nach ein Abbild, das mit der Realität oft wenig zu tun hatte, das sahen auch die Zeitgenossen damals so.

Die neu entdeckte Maschine, also die Fotografie, ersetzte die Technik des Malens, das langsam und ungenau war. Was fotografiert wurde, existierte. Was sich vor der Kamera befand, war real. Heute sehen wir die Beziehung der Fotografie zur Realität kritisch. Wir haben erkannt, dass das Medium Fotografie durchaus in der Lage ist, sehr subjektive Standpunkte zu vertreten. Kaum einer wird heute noch behaupten, die Fotografie sei wirklich ein Abbild der Realität, wenn doch, klicken Sie bitte hier!

Die Rolle des Realitätsvermittlers hat heute, z.B. Google übernommen. Somit hat Google von der Fotografie die Aufgabe übernommen, uns die Realität zu zeigen. Was in Google nicht auffindbar ist, lässt uns leicht an dessen Existenz zweifeln. Das sind die metaphysischen Auswirkungen der Zeit, in der wir leben. Die Sensation unserer Existenz hängt ab von Algorithmen.

Gedanken zum Handeln des jungen Fotoreporters.

Der Künstler Joan Fontcuberta hat durch die Reflexion über das Mosaik, das schon bei den Römern Verwendung fand, den Weg zu Google gefunden und zu den Möglichkeiten, die sich durch Google für die Fotografie bieten. Während in der analogen Fotografie das Bild durch Licht auf Papier aufgetragen wurde, ähnelt die digitale Fotografie viel mehr der klassischen Form der Narration, in der viele kleine Teile zu einem großen Ganzen zusammengetragen werden. In der Geschichte der Malerei war das auch schon der Fall, man betrachte nur den Impressionismus oder den Pointillismus.

Joan Fontcuberta „The Con“

Der Entwickler Robert Silver erfand ein Programm zur Kreation des Photomosaics, bei dem er Fragmente des Bildes mit Bildern aus Datenbanken ersetzte und diese nach Analyse von Tonwert und Farbe zu einem neuen Bild zusammensetzte. Fontcuberta schließlich erschuf in seinem Werk etwas Besonderes, indem er bei seinen Kreationen mit dem Paradox der Gegensätzlichkeit arbeitet und seine Motive mit entgegengesetzten Worte und Begriffen auffüllen lässt.

Zum Beispiel das Bild eines Obdachlosen, unterlegt mit Tausenden von Bildern der reichsten Männer der Welt, in dem er beim Auffüllen in den Programm deren Namen als Stichwortsuche eingab. Sehr spannend. Ein bekanntes Bild von Abu Graib, „The Con“, unterlegte er mit den Bildern der Namen von Soldaten, die bei den Misshandlungen dabei waren. Das ist in meinen Augen auch eine Form von künstlerischem Aktivismus.

Hier geht es zu meinem Projekt über die Ethik „Like a Coat of rain“