Leseprobe
19.30 Uhr. Club Ooops. Berlin
Marisol begann, vor der Webcam zu posieren. Im lila Negligée, auf ihrem privaten Frotteehandtuch, jede Bewegung nach Kundenwunsch, im Studiolicht. Komplimente fürs glatte schwarze Haar und die eintätowierte Schlange nahm sie mit geübtem Lächeln hin. Die Webcam registrierte sie ebenso wenig wie die lächerliche Umgebung, diesen fensterlosen Kellerraum von zehn Quadratmetern, mit dem die Betreiber des Clubs auf Studenten-WG machten, mit Postern angesagter Influencer und Eichhörnchen im Regal, die das Wort LOVE festhielten. Wie sie die Viecher hasste. Und dann die Kerzen. Im silbernen Kerzenhalter. Für jeden Kunden eine frische Funzel, vorgespielte Romantik. Dabei war der Typ am Ende der Leitung pervers. Marisol tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihn der halbstündige Live Chat 60 Ooops-Coins kostete, eine Fantasiewährung des Bordellbetreibers, ein Coin ein Euro. Mit dem Webcam-Job kam Marisol auf 150 Euro am Tag. Wenig Geld für eine Stadt, die so teuer geworden war wie Berlin. Deswegen hatte sie mit der anderen Sache angefangen. Was sie besser gelassen hätte.
Als der Kunde weg und die Webcam aus war, dimmte Marisol die Scheinwerfer. Das grelle Licht wich dem Schimmer der Neonlampe, der ihren Rollkoffer grün statt grau erscheinen ließ, ihr Besitz lag verstreut darauf, Smartphone und
Walter Björnson / BARCELONA GIRLS 2
Ladekabel, Kosmetiksachen. Eine Stunde Ruhe vor den Männern. Rein in Jeans, Shirt und Fellweste. Lohnte sich zwar von der Zeit her kaum, fühlte sich aber nach Freizeit an. Die junge Spanierin schwitzte, denn es war brüllend heiß, der Club ließ die Heizung volle Pulle laufen, damit sie und die anderen Mädels halbnackt herumlaufen konnten. Marisol kratzte sich an der Hüfte, an der das Etikett immer scheuerte, irgendwann würde sie das Scheißteil abschneiden. Jemand klopfte. Bescheuert, dachte Marisol, da kommt wieder einer aus der Tiefgarage hoch und hat sich in der Tür geirrt, das Teil gab es nur aus Feuerschutzgründen. „Die Treppe ist auf der anderen Seite.“ Ihr Deutsch war so mittel, aber den Satz konnte sie inzwischen auswendig.
„Marisol? Ich bin’s!“ Mit der Stimme waren schlagartig die Erinnerungen da. An eine Zeit, in der man sie herumstoßen konnte. Marisol lauschte angestrengt. Nichts. Langsam näherte sie sich der Tür, barfuß. Alles Einbildung. Oder war er es wirklich? Sie drehte den Schlüssel, drückte die Klinke herunter und spähte hinaus. Ein Stoß kalter Luft glitt in den Raum. Das gelbe Licht der Garage wirkte trostlos. Ihr Nissan befand sich da, wo er immer stand. Das konnte sie erkennen. Beruhigend. Sie machte einen Schritt zurück, und in der Sekunde, als sie die Tür zuziehen wollte, sprang jemand aus dem Halbdunkel und drückte ihr den Mund so fest zu wie eine Schraubwinde. Er war mittelgroß und kräftig, mit Leichtigkeit stieß er sie in den Raum zurück, sie plumpste aufs Bett. Zwischen Wut und Zorn schwankend, konnte sie nicht fassen, dass er sie hier gefunden hatte. Sein Blick glitt über die Kameras auf den Stativen, dann wandte er sich Marisol zu, die ihn mit schreckgeweiteten Augen ansah. „Du?“
„Du freust dich nicht.” Es klang enttäuscht. „Das hier hast du doch nicht nötig.“
„Ich schreie, wenn du nicht sofort verschwindest. Keinen Schritt näher.“ Sofort bereute sie ihre Worte. Zurückweisung mochte er nicht. Er wollte immer alles für sich.
Der Mann trat langsam auf sie zu, zog einen Seidenschal aus der Lederjacke, stellte eine Leinentasche neben sie auf den Boden. „Für dich. Kleines Geschenk.“
„Behalt deinen Scheiß.“ Worte, aus denen Ekel sprach.
Er bewegte sich wie in Zeitlupe, sie robbte auf dem Bett zurück, von Angst ergriffen, bis ihr Hinterkopf die
Betonwand berührte. „Leg den Schal um.“
Sie schüttelte panisch den Kopf. In ihren Augen las er
ihre Angst und genoss sie. Viel zu schnell war er über ihr, sprang auf ihren Bauch, so dass sie aufschrie. Er wickelte ihr den Schal um den schlanken Hals. Als labte er sich daran, zog er ihn an beiden Enden stramm und würgte sie, bis ihr die Zunge aus dem Mund trat. Und alles im wilden Schmerz versank.
18.30 Uhr. Berlin
Eine Stunde, bevor Marisol starb, hielt der Mann, mit dem sie eine flüchtige Affäre hatte, vor seiner Wohnungstür
inne. Josef Hadersucht, 48, Polizeibeamter mit gesichertem Einkommen und einer bemerkenswerten Quote aufgeklärter Fälle, litt unter Einsamkeit. Die Schuld daran gab er seiner Exfrau Gabriele, oder vielmehr dem Moment, der sie zur Exfrau gemacht hatte. Bei der Trennung, die so unerwartet wie traumatisch über ihn hereingebrochen war. Um dem zermürbenden Gefühl des Alleinseins zu entgehen, nahm er die Nähe von Menschenansammlungen in Kauf, die er vor ihrem Weggang aus Verachtung gemieden hatte. Selbst an einem kalten, regnerischen Abend wie diesem war ihm die eigene Wohnung ein Graus. Die Ödnis seines Daseins drängte ihn auf die Straße. Draußen im Humboldthain ging die Straßenbeleuchtung an. Hadersucht band sich den Kaschmirschal um den Hals und tigerte zur S-Bahn-Station, fuhr einsam und verlassen Richtung Alexanderplatz. Dort wartete das Oktoberfest, drei Wochen Dauerbespaßung nach Vorbild der Münchener Wiesn. Bier, Grillfleisch, Humtata. Das grauschwarze Haar klatschnass vom Regen, tauchte Josef Hadersucht um Viertel nach Sieben im Gewühl des Alexanderplatzes unter. Von den Buden her roch es nach Kandis und gebrannten Mandeln. In Holzblockhütten verkauften Kunsthandwerker ihren Kram, nebenan dampfte Winzerglühwein. Das Gefühl der Verlassenheit wich in der Menschenmenge keinen Schritt von ihm. Josef wischte sich Regenwasser vom grauen Mantel, den ihm Gabriele geschenkt hatte. War es zum Geburtstag gewesen oder zu Weihnachten? Er hatte es vergessen. Mehr als ein Jahr war das mit der Trennung jetzt her, doch es kam ihm vor wie gestern. Alles in ihm weigerte sich, zu akzeptieren, dass es zu einem Comeback nicht kommen würde. Das Klärungsgespräch hatte er verpatzt, wer sonst. Es war die reine Qual gewesen. Nichts als eine Auflistung seiner Fehler, für die er selbst blind war. Gabriele hatte die Scheidungspapiere daraufhin mit so ausdrucksloser Miene unterschrieben, als wäre jedes Gefühl in ihr abgestorben. Und das nach 17 Jahren Ehe. Die meisten davon glücklich, wie er fand. Gabriele behandelte ihn wie Luft, meldete sich höchstens, wenn sie etwas haben wollte, das sie in der ehelichen Wohnung vergessen hatte. Sie war nun schon lange ausgezogen und Josef hauste dort alleine. Er ließ die Heizung in jedem Zimmer laufen, als warte er auf ein Wunder. “Du haust hier wie ein Penner, der es warm hat,” hatte seine Tochter Annika einmal zu ihm gesagt. Woraufhin er sie mit Leidensmiene ansah, nach Verständnis heischend. Zu viel verlangt von einer 18-jährigen Rebellin.